Auf dem Weg zu einer partizipativen medikamentösen Behandlung für mehr Patientensicherheit

In dem EU-Projekt „SafePolyMed“ – Improving Safety in Polymedication by Managing Drug-Drug-Gene Interactions – wollen Forschende Ärzten und Apothekern zukünftig innovative Werkzeuge zur Verfügung stellen, um die Sicherheit der Arzneimittelbehandlung zu erhöhen und Patienten darüber aufzuklären, wie sie die Arzneimitteltherapie eigenständiger durchführen können. Neben der klinischen Perspektive ist die aktive Patientenbeteiligung für die Verbesserung der Arzneimittelsicherheit ganz zentral von Bedeutung. Die Gesamtförderung des Projektes beträgt 5,6 Millionen Euro im Rahmen des „Horizon Europa“-Rahmenprogramms für Forschung und Innovation der Europäischen Union – rund 600.000 Euro fließen davon in den Teilbereich, der an der Uniklinik RWTH Aachen durchgeführt wird. Dort sind Univ.-Prof. Dr. med. Julia Stingl, Direktorin des Instituts für Klinische Pharmakologie und ihr Team für die Entwicklung von Maßnahmen zu mehr Patientenbeteiligung in der Arzneimitteltherapie zuständig.

Unerwünschte Arzneimittelwirkungen, umgangssprachlich Nebenwirkungen genannt, sind nicht nur für die einzelnen Betroffenen problematisch, sondern auch eine große Belastung für die Gesundheits- und Wirtschaftssysteme. Allein in Europa lassen sich nach einer Einschätzung der Europäischen Kommission pro Jahr etwa 197.000 Todesfälle auf unerwünschte Arzneimittelwirkungen zurückführen. Bekannte Gründe für eine möglicherweise erhöhte Häufigkeit und Schwere von unerwünschten Nebenwirkungen sind neben den genetischen Voraussetzungen die regelmäßige gleichzeitige Einnahme von fünf oder mehr Medikamenten, auch Polypharmazie genannt, und die auftretende Koexistenz von zwei oder mehr Langzeiterkrankungen, die sogenannte Komorbidität. Das entscheidende Stichwort lautet Pharmakovigilanz – der Fachbegriff für Arzneimittelsicherheit. Darunter versteht man die laufende und systematische Überwachung von unerwünschten Wirkungen eines Arzneimittels ab dem Zeitpunkt der Marktzulassung. Das Ziel ist es, diese zu entdecken, zu verstehen und zu dokumentieren. Das ist notwendig, damit die Behörden beurteilen können, ob Maßnahmen zu ergreifen sind, die das Risiko für Patienten vermindern. In der klinischen Praxis wird der starke Zusammenhang zwischen Medikamenten-Wechselwirkungen und der Interaktion zwischen Patienteneigenschaften (wie das genetische Patientenrisikoprofil) und Arzneimitteln noch zu oft vernachlässigt und jeweils als Einzelphänomen betrachtet. Die Forscherinnen und Forscher von „SafePolyMed“ plädieren für einen patientenzentrierten Ansatz, der individuelle Besonderheiten beim Patienten wie z. B. Krankheitszustände und Wechselwirkungen zwischen Medikamenten sowie den Genen berücksichtigt. An dem Projekt beteiligt sind insgesamt elf Partnerinstitutionen aus ganz Europa. Die Koordination hat die Klinische Pharmazie der Universität des Saarlandes, geleitet von Prof. Dr. Thorsten Lehr, inne.

Innovative Werkzeuge für die Praxisanwendung

SafePolyMed will die Patientensicherheit bei komplexen Arzneimitteltherapien erhöhen. Hierzu wollen die Forscherinnen und Forscher innovative Werkzeuge zur Definition, Bewertung und Verwaltung von Wechselwirkungen zwischen Arzneimitteln und den Genen für Ärzte und die einzelnen Patienten entwickeln. Das soll langfristig das Wissen zu Arzneimitteln und Nebenwirkungsrisiken bei den Bürgerinnen und Bürgern verbessern und sie dazu befähigen, selbstständig für ihre eigene Therapie ein besseres Verständnis zu erwerben, um so auch ärztliche Entscheidungen besser nachvollziehen zu können. Die Forschenden haben dabei die Herausforderung zu lösen, dass die Einschätzung des individuellen Risikos für Arzneimittelnebenwirkungen bisher subjektiv vom jeweiligen verschreibenden Arzt vorgenommen wird, was jedoch dazu führt, dass wichtige Patienteneigenschaften gar nicht bekannt werden und so das Risiko „ohne den Patienten“ schlecht abgeschätzt werden kann. Genau an diesem Punkt wird „SafePolyMed“ ansetzen: In den nächsten dreieinhalb Jahren entwickeln die Forschenden ein robustes und klar definiertes Risiko-Score-System, das Ärzte und Apotheker bei der individuellen Risikoeinschätzung für unerwünschte Arzneimittelwirkungen bei jedem einzelnen Patienten unterstützt und den Entscheidungsprozess leitet. Die Forschenden wollen dazu Techniken des maschinellen Lernens und der künstlichen Intelligenz (KI) verwenden, um große reale Datensätze zu analysieren, die genomischen Informationen, demographische Daten, aktuelle und chronische Gesundheitszustände und medikamentenbezogene Details einzelner Patienten zu sammeln und zu integrieren. Dadurch wollen sie ein besseres Verständnis des Risikos einzelner Patientinnen und Patienten für schlechte Behandlungsergebnisse erlangen und personalisierte Therapieentscheidungen ermöglichen. Darüber hinaus ist die medikamentenbezogene Sicherheit auch stark davon abhängig, ob die Patienten selbst in der Lage sind, Nebenwirkungen zu erkennen und auch zu dokumentieren. In Situationen der Polymedikation sind die Wechselwirkungen zwischen den oft über zehn Arzneimitteln, die eingenommen werden müssen, vollkommen unklar und schwer zu erheben. „Daher ergänzen wir die Analysen um mathematische Modelle, um komplexe Arzneimittelwechselwirkungen zu bewerten und durch die Analyse aller Daten bei einem Patienten eine auf diesen Patienten zugeschnittene Therapieanpassung zu berechnen, die Wechselwirkungen erkennt und Nebenwirkungen vermeidet. Um diese modellbasierten Therapieempfehlungen den Gesundheitsdienstleistern zugänglich und die Nutzung für sie attraktiv zu machen, wird SafePolyMed ein Prototyp eines nutzerfreundlichen, webbasierten Entscheidungsunterstützungssystems entwickeln“, erklärt Prof. Stingl.

Förderung der aktiven Patientenbeteiligung

Neben der klinischen Perspektive ist eine wichtige Säule des Projekts die aktive Einbindung der Patienten: „Wir setzen auf eine systematische Dokumentation des selbst empfundenen Gesundheitszustands der Patienten. Sie sollen ihre eigene Wahrnehmung mittels spezifischer Fragebögen, sogenannter Patient-Reported Outcome Measures (PROMs), einfließen lassen, um Probleme im Zusammenhang mit unerwünschten Nebenwirkungen frühzeitig zu erkennen. Die Fragebögen wollen wir daher mit verschiedenen Patientenvertretern aus unterschiedlichen Krankheitsgebieten, in denen Polymedikation vorkommt, entwickeln, um eine möglichst repräsentative Datenbasis zu erlangen, welche Nebenwirkungen insbesondere für die Patientinnen und Patienten als unangenehm empfunden werden“, sagt Prof. Stingl. Zusätzlich soll das Forschungsprojekt dazu beitragen, nachhaltige Infrastrukturen aufzubauen, die die Patientenbeteiligung fördern und den Austausch mit Patientenorganisationen stärken. „Der Gedanke dahinter ist, dass wir die Beteiligung der Patienten an der Gesundheitsversorgung erhöhen wollen. Nur befähigte, mündige Patienten sind in der Lage, eine aktive Rolle in ihrem eigenen Therapiemanagement einzunehmen“, so Prof. Stingl. Ziel ist es, ein umfassendes Medikationsmanagementzentrum zu entwickeln, das innerhalb der europäischen Gesundheitssysteme interoperabel ist und den Patientinnen und Patienten einen besseren und standardisierten Zugang zu gesundheitsbezogenen Informationen ermöglicht, sodass sie ihre eigene medikamentöse Behandlung angemessen verwalten können. Ergänzend dazu soll gemeinsam mit europäischen Patientenorganisationen das Angebot an Schulungen zur Arzneimittelsicherheit für Patientinnen und Patienten deutlich ausgebaut werden.

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